Ganz plötzlich war sie da, diese nostalgische, fast wehmütige Stimmung. Sie stellte sich ein beim Pflegen eines Paares schwarzer Lederschuhe, die trotz ihres Alters und des sehr häufigen Tragens immer noch in einem außerordentlich guten Zustand sind. Die Nähte und das Leder sind intakt, und die Spuren der Alterung und des Gebrauchs stören mich nicht – im Gegenteil: Sie machen die Schuhe in meinen Augen nur noch schöner und wertvoller.
In dieser Stimmung habe ich mich gefragt: Wo sind sie eigentlich geblieben, diese häufig benutzten Dinge, die, im jahrelangen Einsatz abgewetzt und abgegriffen, ihre Kratzer, Dellen, Sprünge und andere Blessuren beinahe stolz und ihre charakteristische Patina wie eine Auszeichnung tragen? Die gleichsam gereift sind in den Händen ihres Eigentümers, ihn lange begleitet haben und Zeugnis ablegen können über ihn und einen Abschnitt seines Lebens?
Wurden sie abgelöst von solchen Gegenständen, die schnell unbrauchbar sind und ersetzt werden müssen, bevor sie altern können? Gibt es zuviel Modisches, das nicht mehr über das Klassisch-Zeitlose verfügt, und beim nächsten Trend eilig durch ebenso Kurzlebiges ausgetauscht wird? Liegt es daran, dass vieles nicht ästhetisch altern, sondern nur hässlich werden kann, weil Material oder Verarbeitung dies nicht erlauben? Haben wir gar zu viele Dinge für denselben Zweck, so dass der einzelne Gegenstand nur selten benutzt wird und daher immer wie neu bleibt?
Wie kann man an Gebrauchsspuren Gefallen finden? Nun, vielleicht sorgt ja meine Freude an alltäglichen Dingen und der Vertrautheit mit ihnen, die erst nach einer gewissen Zeit und zusammen mit eben diesen Spuren kommt, für eine solche Empfindung. Sie könnte auch von der zunehmenden Zahl aktueller Produkte herrühren, die ich – möglicherweise aufgrund steigender Ansprüche – oft in mehrfacher Hinsicht als minderwertig und seelenlos erlebe, oder von der (Wieder-)Entdeckung bisweilen stark beanspruchter Alltagsdinge aus vergangenen Zeiten, die mir großen Spaß macht.
Schon merkwürdig, welche Gedanken beim Putzen alter Treter aufkommen können.
Interessante Gedankengänge. Für viele Zeitgenossen wird ja häufig ein Gegenstand mit der ersten Gebrauchsspur wertlos, nur wenige empfinden wie Sie, daß ein Kratzer, eine Falte oder Beule das Produkt „adelt“.
Einer meiner Philosophieprofessoren meinte vor etlichen Jahren einmal im Rahmen einer Hegel-, Plato- oder Leibniz-Vorlesung, da bin ich mir nicht mehr so sicher, daß wir heutzutage die Gegenstände ersetzen, bevor sie altern können, die ganze schnellebige Ex-und-Hopp-Konsumwelt, die zunehmende Verbreitung von Einwegprodukten, sei lediglich Ausdruck unserer Unfähigkeit, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, ihm ins Auge zu schauen. Wir einsorgen einen Gegenstand vor der Zeit, um nicht sein Ende erleben zu müssen, das uns an das eigene Ende mahnen würde. Einwegprodukte seien uns nicht von effizienten Fertigungsprozessen diktiert, sondern unser Denken diktiert den Fertigungsprozeß. Für ihn war der Bleistiftstummel (er schrieb viel mit Bleistift) in gewisser Hinsicht ein memento mori oder Vanitas-Symbol.
Paßt irgendwie zum Novemberanfang.
Aus der Seele gesprochen, Gunther! Ein Lob der Patina. Bei Kleidungsstücken erscheint die Wertschätzung des Bewährten am augenfälligsten, besonders bei Ledersachen. Ist eine kaum 15-jährige Lederjacke „alt“? Meine Frau behauptet das. Kaum richtig eingetragen, soll sie bereits durch eine neue ersetzt werden. „Das speckige Ding kannste nich mehr anziehen! Ausserdem isse zu eng! … Guck ma n Kragen! Völlich abgewetzt.“ Gegen Nüchternheit ist kein Kraut gewachsen.
Bei Büchern neige ich auch zur Pragmatik, besonders bei antiquarischen. Im Gegensatz zu Kleidungsstücken wird man diese dereinst der Nachwelt hinterlassen. Man ist nur vorübergehender Nutzer und Kulturerbe muss man pflegen. Konkret: Den eingerissenen Schutzumschlag auf dem oben abgebildeten Buch würde ich mit filmoplast P hinterlegen ;-)
Danke für Eure Kommentare!
Frank: Der philosophische Aspekt, den Sie erwähnen, ist sehr interessant, und ich kann mir gut vorstellen, dass es eine Verbindung gibt zwischen der Akzeptanz des – drastisch ausgedrückt – eigenen Zerfalls und dem der Dinge, mit denen wir uns umgeben. Ich denke aber, dass nicht nur unser Denken den Fertigungsprozess diktiert, sondern auch eine Wirkung in umgekehrter Richtung stattfindet, denn die nie enden wollende Verfügbarkeit neuer Dinge bestätigt und befriedigt den Wunsch nach Neuem und verringert damit sicher gleichzeitig die Bereitschaft, alterndes zu akzeptieren oder gar wertzuschätzen. – Der Bleistiftstummel als memento mori, das gefällt mir.
Jürg: Die Lederjacke ist ein sehr gutes Beispiel – auch ich habe ein solches „verwatztes“ Stück. Allerdings gehe ich wie bei den Schuhen schon mal an sie ran und nehme die eine oder andere werterhaltende Maßnahme vor, bei der natürlich auch manche Spuren wieder verschwinden oder zumindest weniger sichtbar werden. Bei Büchern mache ich noch einiges mehr, und so nutze ich filmolux schon seit vielen Jahren, besonders bei Nachschlagewerken, ebenso nichtklebende Folie für einen Einband über dem Schutzumschlag. (Das gezeigte Buch ist eigentlich kein gutes Beispiel, denn ich habe es antiquarisch in diesem Zustand erworben und werde selbstverständlich noch Reparaturen vornehmen oder vornehmen lassen, nicht zuletzt weil es ein recht seltener Titel ist.) Die Bereitschaft, Spuren zu akzeptieren, ist ja nicht gleichbedeutend mit sorglosem Umgang oder dem uneingeschränkten Hinnehmen von Spuren der Vorbesitzer; so habe ich z. B. seltene, gebraucht gekaufte Schallplatten sorgfältig gereinigt, die Hüllen nach Möglichkeit repariert und die Stücke dann ebenso wie neue pfleglich behandelt. – filmoplast P ist wohl die perfekte Lösung – danke für den Hinweis!
hi,
mal wieder meine übliche frage: wo gibts denn dieses filmolux und plast im einzelhandel?
toller artikel übrigens!!!
alex
filmolux gibt’s z.B. hier
Alex: Auch das Reparaturband „filmoplast P“ gibt’s bei Modulor, doch ich habe es bei Wilhelm Leo’s Nachfolger GmbH bestellt. – Ansonsten ist es immer ratsam, den Hersteller nach einer Bezugsquelle zu fragen.
Ich kenne diese Gedanken auch, aber ich denke, dass man damit ein bisschen vorsichtig sein muss. Die so oft zitierte „gute alte Zeit“ war wohl in kaum einem Belang viel besser als unsere heutige, und nostalgisch-romantisierende Gefühle beherrschen die technologische Diskussion nun auch schon ein paar hundert Jahre, in wechselnder Verkleidung und in wechselnder Intensität. Dass die auf uns überkommenen Geräte und Möbel uns so sehr erfreuen, ist auch kein besonders großes Wunder, der selbst- und fremdproduzierte Einwegschrott von früher landete eben irgendwann in den letzten 100 Jahren mal auf dem Müll. Ich erfreue mich an einem gut gemachten handwerklichen Gerät und einem gut hergestellten Lebensmittel, aber ich bin mir auch durchaus bewusst, dass Manufaktum-Katalogprosa und Bioware einen elitären, neo-spießigen Aspekt haben, zumal sie für einen Großteil der Bevölkerung schlicht nicht erschwinglich sind – und das auch früher nicht waren: das Landvolk aß früher nicht etwa gesunde Vollwertkost, sondern wohl oft genug nur irgendeine dünne Suppe, und ein Bleistift oder gar noch avanciertere Geräte, ob industriell oder vorindustriell, waren wohl immer schon ein eher teures Vergnügen. Es macht eben bedeutend mehr Freude, sich in das Leben eines Landedelmanns oder Großbürgers hineinzunostalgisieren als in das der Mehrzahl der Leute, die diese „guten alten Zeiten“ ebenfalls erleben mussten.
Danke für diesen interessanten und zudem sehr richtigen Kommentar – die angemahnte Vorsicht ist in der Tat angebracht.
Ich bin mir bewusst, dass die „gute alte Zeit“ rückblickend nur deswegen gut war, weil wir das Schlechte vergessen oder verdrängt haben, und dass – ich zitierte Peter Ustinov – jetzt die guten alten Zeiten sind, nach denen wir uns in zehn Jahren zurücksehnen. Weder wünsche ich mir, vor hundert Jahren gelebt zu haben, noch möchte ich auf die aktuellen Errungenschaften vollständig verzichten. Den elitären Aspekt von Manufactum und Bioware kenne ich natürlich ebenfalls (ich bin weder typischer Kunde des einen noch regelmäßiger Käufer der anderen).
Schrottige Gebrauchsgegenstände gab es bestimmt zu allen Zeiten, und ich will auch nicht den Eindruck des apokalyptischen Reiters erwecken und als solcher sagen, das alles ständig schlechter wird oder es noch nie so schlimm war wie heute (selbst wenn es vielleicht für beides Argumente gäbe).
Und so möchte ich beileibe nicht zurück zu dem, was früher üblich war, sondern wende mich gegen das, was jetzt leider viele (in meinen Augen zu viele) Produkte ausmacht: Fehlerhafte Technik am Rande der Benutzbarkeit, minderwertige Materialien, schlechte Verarbeitung sowie andere negative Merkmale, die den Umgang nicht nur mit alltäglichen Dingen unerfreulich machen. Als einen möglichen Weg sehe ich dabei die auswählende Rückbesinnung auf das eine oder andere alte und auch die Wertschätzung aktueller Qualität.
Die Sache liesse sich weiter vertiefen. Was sind die aktuellen Errungenschaften, auf die wir ungern verzichten würden? Warum möchten wir nicht vor hundert Jahren gelebt haben? Was fehlte uns da zum Glück? Oder ist es gar nicht das Glück allein? Kommt Macht dazu? Die Beherrschung der Technik? Dampfmaschine, Strom, Auto, Flugzeug, Telefon, Computer. Einmal da, sind sie nicht mehr wegzudenken. Lao Tse hat eine Bewässerungsanlage für seinen Garten abgelehnt. Er spritze lieber von Hand, da er die Folgen der angewandten Technik nicht absehen konnte. No risk – no fun? Die Möglichkeiten sind doch da, um ausgeschöpft zu werden. Die Sache mit dem Apfel ist fies. Wozu die Verführung, wenn sie eh ins Desaster führt?
Dass wir für künftige Generationen einmal das Goldene Zeitalter repräsentieren könnten, ist eine ulkige Vorstellung. Kann’s noch schlimmer kommen? Die ökologischen Gegebenheiten erscheinen bereits ziemlich ausgereizt. Ist ein kultureller Abstieg noch denkbar? Eine weitere ethische Entwurzelung? Gut, man kann argumentieren, dass seit jeher über die eigene Zeit lamentiert wurde. So schlimm kann’s also nicht sein. Was aber, wenn alle recht hatten? Wenn, unter dem Deckmantel des vermeintlichen Fortschritts, die Dekadenz stetig fortschreitet? Und wir merken’s nur deshalb nicht, weil wir die Zerstörung im Grunde gutheissen? Zu retten ist eh nix mehr? Dann lieber ein Neuanfang. Und diesmal lassen wir den Apfel hängen?
Danke für Deinen Kommentar, der mich sehr nachdenklich stimmt; hier ein paar Gedanken dazu.
Beim Nachdenken über die vielleicht entbehrlichen Errungenschaften fällt mir auf, dass es in vielen Fällen nicht in erster Linie die Dinge selbst sind, auf die ich verzichten könnte, sondern das, was manche (mich eingeschlossen!) damit machen. Um es ganz pessimistisch auszudrücken: Zuweilen habe ich den Eindruck, als helfe die eine oder andere neue Technik uns hauptsächlich dabei, unsere schlechtesten Seiten zu zeigen und unsere negativen Eigenschaften zu verstärken. Aber so finster denke ich nur in seltenen Ausnahmefällen.
Doch was folgt daraus? Ein anderer Mensch? Nein, derartiges und alles andere, was in diese Richtung geht, würde ich weder fordern noch unterstützen. Ich bin mir bewusst, dass nicht jeder meine Wertvorstellungen teilt, und akzeptiere das natürlich (jedenfalls so lange es meine Gesundheit nicht beeinträchtigt und mich nicht anderweitig gefährdet). In den Kanon zur Rückbesinnung auf einige der sog. „alten Werte“ möchte ich auch nicht einstimmen, auch wenn dieser schon eher in die Richtung geht, die ich bevorzuge.
Die Vorstellung, dass sich unter der glänzenden Hülle des Fortschritts die fortschreitende Dekadenz und der stetige Rückschritt verbergen, ist eine beunruhigende, doch so lange es Argumente sowohl dafür als auch dagegen gibt, möchte ich mich ihr nicht ergeben, auch wenn ich mir des Umstands bewusst bin, dass ich durch so manche Verhaltensweise – wissentlich oder nicht – zur Zerstörung beitrage und damit eben diese Zukunftsvision bestätige.
Was tun? Ich habe leider keine Lösung, sondern kann nur einen ganz bescheidenen Beitrag leisten, auch wenn dieser in den Augen mancher als Technikfeindlichkeit, Querulantentum oder Elitismus erscheinen mag. Etwas weniger Mittelmaß, mehr Sorgfalt auch (oder gerade) im Kleinen und Kleinsten, mehr Spiritualität, Akzeptanz der Vergänglichkeit, des Unvollständigen, des Fehlerhaften – das sind einige der Dinge, von denen ich denke, das sie uns vielleicht weiterhelfen könnten.
Die Hoffnung oder Erwartung ist ja immer die, dass die durch eine bestimmte Technik ausgelösten Probleme mit einer anderen Technik gelöst werden können. Das erinnert an Medikamentenstafetten, wo Nebenwirkungen eines Präparats durch ein anderes behandelt werden, welche ihrerseits Nebenwirkungen enthalten etc. Das Vertrauen auf die Machbarkeit von allem erscheint grenzenlos. Die Wissenschaft wird’s richten. Wenn nicht heute, dann morgen. Genug der Miesepetrik? Einen noch. Auf Forbes‘ Liste der 20 most important tools ist aus dem 20. und 21.Jhdt. nichts dabei. Unser Bleistift schafft es – hinter Messer, Zählrahmen (!) und Kompass – auf Rang 4.
Auch wenn es in den Augen mancher technikfeindlich erscheint, ist es wohl bestimmt nicht wirkliche Technikfeindlichkeit die dahintersteckt. Vor allem nicht hier bei Lexikaliker, wo es mir doch immer so vorkommt als ob die meisten Leser und Bleistiftfreunde aus der Ecke der Ingenieure oder zumindest einer dem Ingenieurwesen aehnlichen Ecke kommen. Es ist wohl eher, wie hier schon erwaehnt, die Besinnung auf und Faszination mit einfachen aber effektiven Geraeten, an denen man seine Freude haben kann. Das kann wohl mit der Ablehnung neuer Techniken, oder der dem Entsetzen ueber den falschen Einsatz neuer Techniken einhergehen, bedeutet aber nicht, dass man gleich ein Luddit ist oder sich in alte Zeiten fluechten will. Als Beispiel faellt mir da die Ablehnung von Wahlcomputern durch Computerspezialisten ein, die es ja wissen sollten, oder die Tatsache, dass neue Technik, wie ja schon erwaehnt, oft Probleme mit sich fuehrt, die es so vorher nicht gab. Mein Internetradio braucht fast zwei Minuten zum Hochfahren. Am Ende hoere ich Deutsche Welle, die kann ich aber auch auf Kurzwelle hoeren …und muss keine zwei Minuten warten. Wo ich wohne gibt es kein analoges terrestrisches Fernsehen mehr. Zwischen den Kanaelen umzuschalten dauert sehr lange. Beim analogen Fernsehen konnte man durch fuenf Kanaele pro Sekunde schalten, jetzt dauert das Umschalten von einem auf den anderen Kanal Sekunden. Mein Empfaenger im Wohnzimmer braucht auch 90 Sekunden nach dem Einschalten bis ich ein Programm sehen kann. Ein letzter Beispiel: Frueher haben sich die Ingenieure Muehe gegeben VPS zu erfinden um ein Signal Huckepack mit dem Fernsehsignal zu schicken, damit Fernsehprogramme richtig aufgenommen werden koennen. Inzwischen ist alles ein digitaler Datenstrom, aber zumindest in dem Land in dem ich lebe gibt es so etwas wie VPS nicht mehr, obwohl es so einfach zu realisieren waere, und wir sind wieder in der Steinzeit angelangt…
Ich denke es ist diese Verzweiflung mit neuer Technik, die weniger benutzerfreundlich ist als es die alte war, die die Rueckbesinnung in vielen von uns hervorruft. Eine Rueckbesinnung auf Sachen die einfach (im doppelten Sinne des Wortes) funktionieren – wie der Bleistift, und auf Produkte – wie die Lederschuhe – die noch wertgeschaetzt wurden, gepflegt werden mussten, und denen man wohl auch deshalb einen Charakter zuspricht.
Danke für die rege Teilnahme an dieser für mich spannenden Diskussion!
Jürg: Was die Hoffnung auf die problemlösenden Eigenschaften der nächsten Technik-Generation angeht, so mache ich gerne mal den Ober-Miesepeter – mein Eindruck ist zuweilen der, dass gerade diese Hoffnung und der Blick auf die kommenden Möglichkeiten die Akzeptanz für die aktuellen Probleme vergrößert, und das nicht erst beim Umgang mit der Technik, sondern bereits während ihrer Entwicklung. Eines der Zauberwörter ist „Firmware-Update“, das ähnlich einer frohen Botschaft verkündet wird, meiner Meinung nach aber nicht selten konzeptionellen Bockmist kaschiert. Medikamentenstafetten sind natürlich ungleich schlimmer, können sie doch für irreparable physische und psychische Schäden sorgen. – Den Rang 4 für den Bleistift sehe ich als eine große Auszeichnung, auch wenn man über die Platzierungen dieser Liste diskutieren könnte.
Du hast gefragt, ob noch Macht dazu kommt und die Beherrschung der Technik eine Rolle spielt. Ich denke schon, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht. So wie die Kontrolle über eine bestimmte Technik – und sei es auch nur der Glaube, sie kontrollieren zu können – ein gutes Gefühl vermitteln und auch Macht geben mag, so sorgt der Umgang mit einer Technik, die man nicht im Griff hat, für ein ungutes Gefühl. Die Gründe dafür sind vielseitig: Die Technik kann Mängel haben und den Benutzer über- oder unterfordern, ihm aber auch mit einer nicht überschaubaren Funktionsfülle das nagende Gefühl vermitteln, nie alle Möglichkeiten ausschöpfen zu können.
Matthias Meckel: Ja, einfache und effektive Geräte faszinieren mich. Sie halten sich zurück, bieten mehr Spielraum und haben eine eigene Ästhetik, doch ich weiß sehr wohl, wie subjektiv die Begriffe „einfach“ und „effektiv“ sind (und nutze selbstverständlich gerne Kompliziertes in solchen Fällen, in denen es angebracht ist).
Notwendig beim bewertenden Gespräch über den Fortschritt ist die Differenzierung, und die kommt in meinen Augen manchmal zu kurz. Der kritische Umgang mit aktueller Technik ist – wie Du schon richtig gesagt hast – eben nicht gleichbedeutend mit Technikfeindlichkeit, und die Wertschätzung eines alten Geräts macht einen auch noch nicht zum Ludditen. Dein Beispiel mit dem Rundfunk ist ein sehr treffendes und ließe sich noch erweitern um die Probleme mit HDTV, DRM usw. (warum man VPS nicht über Satellit ausstrahlt, ist mir ein übrigens Rätsel). Ärgernisse wie diese haben wirklich das große Potential, den Benutzer in die Verzweiflung zu treiben und zurück zu einer Technik, deren „Features“ und Spezifikationen denen der heutigen deutlich unterlegen sein mögen, die jedoch mit weitaus weniger Nebenwirkungen ihren Zweck erfüllt und auch heute noch gut genug ist.
Ein kleines Beispiel von mir: Ich bin mit Schallplatte und Kassette aufgewachsen, und auch wenn diese Medien ihren Nachfolgern in vielem nachstehen mögen, so kann ich mich nicht erinnern, zu wenig Freude an der Musik gehabt zu haben. Der Kram klang gut (zum Teil sogar hervorragend), war alltagstauglich und bezahlbar, und die Schwierigkeiten, die es damals natürlich auch gab, ließen sich meist mit vertretbarem Aufwand beheben. Und heute? Allein den administrativen Overhead bei MP3 & Co. halte ich schon für beträchtlich – aber vielleicht stelle ich mich ja auch nur ausgesucht dumm an … Doch genug lamentiert.
Mir gefällt an manchen alten, aber zum Glück auch neuen Geräten auch der bereits an anderer Stelle erwähnte Aspekt der Begreifbarkeit in der doppelten Bedeutung des Wortes und die damit verbundene Möglichkeit des sinnlichen Erlebens; gerade letzteres kommt mir manchmal zu kurz.
Interessant der Gedanke mit der Firmware. Die Hardware-Produzenten müssen auf die technischen Entwicklungen, die sich in anscheinend immer kürzer werdenden Zyklen folgen, schnell reagieren, sonst sind sie weg vom Fenster. Die in den Geräten enthaltene Software muss fürs erste einfach mal grob funktionieren, damit das Produkt auf dem Markt erscheinen kann. Später können die angepriesenen Features per Firmware Update nachgeliefert bzw. nachgebessert werden.
Überhaupt, dieser enorme Geschwindigkeitsdruck allenthalben. Man sieht es z.B. an den Video-Clips, deren Schnitte oft im Sekundentakt mosaikartig dahingleiten. Kaum hat man ein Bild wahrgenommen, wird es schon vom nächsten abgelöst. Wenn man nach so einem Clip auf einen Film aus den 50er Jahren schaltet, hat man den Eindruck, dass dort die Zeit gleichsam still steht. Die Leute haben Zeit, oft geschieht einfach nichts. Ich erinnere mich an einen alten Bergmann Film, wo jemand eine Minute lang den Sekundenzeiger einer Uhr beobachtet. Eine kleine Ewigkeit.
„Gute alte Zeit“, „Technikfeindlichkeit“, ich glaube, das ist nicht das Thema. Ich war letzten Freitag im Ecomusée in Ungersheim (http://www.ecomusee-alsace.fr/), das ist sehr anschaulich und unterhaltsam, aber so leben müssen? Wollen? Nein danke.
Es geht um Qualität. Ein Bleistift, der ständig abbricht, ist Schrott, ein Spitzer, der nicht spitzt, sondern den Stift zerfetzt, ebenso. Und die Zahl der Produkte, die ihre Funktion nicht oder nur teilweise oder ungenügend erfüllt, nimmt leider zu. Und findet man auch, nebenbei bemerkt, für sehr viel Geld bei Manufaktum, das ist dann doppelt ärgerlich. Es geht nicht um Blechspielzeug und Brummkreisel, es geht um Weichmacher und Schwermetalle im Plastikmüll fürs Kinderzimmer oder Legosteine auf der anderen Seite, die in der dritten Generation bespielt werden; um die Frage, ob wir das alles wirklich brauchen, was, die Geldmittel vorausgesetzt, der Markt uns zur Verfügung stellt, und was wir uns persönlich davon versprechen. In diesem Zusammenhang sehr lesenswert das Buch von Heike Weber: Das Versprechen mobiler Freiheit. Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy, ISBN 9783899428711.
„Dekadenz“, die seit Cicero über Rousseau, Nietzsche, Spengler und Heidegger bis heute durchgehend von „linken“ wie auch „rechten“ Denkern thematisiert wird, ist meines Erachtens unabhängig von „Produktqualität“, da sie sich zu allen Zeiten in den unterschiedlichsten Gesellschaften und sozialen Milieus beobachten läßt, die ganz unterschiedlich mit (Konsum)Gütern ausgestattet sind oder waren.
Jürg: Die Zyklen, in denen die Firmware geändert wird, sind manchmal sogar noch kürzer als die der betreffenden Geräte, nämlich dann, wenn während der laufenden Produktion ein Fehler korrigiert oder ein Zulieferer gewechselt wird und die neue Komponente eine Anpassung der Firmware nötig macht. Und was das „später“ angeht, so habe ich sehr gemitsche Erfahrungen, denn meist hat die Firmware für das neue Produkt eine höhere Priorität als ein Update für das alte. Wenn es dann heißt, man muss schneller sein als die Mitbewerber, frage ich mich, was Ursache und was Wirkung ist …
Den Geschwindigkeitszuwachs in der Welt der bewegten Bilder empfinde ich auch als enorm und meist als ziemlich strapaziös. Vielleicht ist es eine Frage der Generation, vielleicht eine der Gewöhnung – ich jedenfalls fühle mich mit langsamen Bildern erheblich wohler und freue mich, diese zuweilen auch in aktuellen Kinofilmen zu finden (wie z. B. kürzlich in „The Limits of Control“ von Jim Jarmusch).
Frank: Danke für diese vernünftige und notwendige Differenzierung, doch ich bin mir nicht sicher, ob man die Qualität eines Produktes wirklich vollständig von der Kultur seines Herstellers und auch des Benutzers trennen kann. Spräche man von der Produktqualität als Produktkultur, so würde der Zusammenhang, den ich vermute, noch deutlicher. Aber Ihr Einwand, dass es letztendlich weder um die „gute alte Zeit“ noch um Technikfeindlichkeit geht, ist natürlich völlig richtig und Ihre Fragen zu unseren tatsächlichen Bedürfnissen sehr angebracht. – Danke für den Hinweis auf das Buch!
Die langsamen Bilder von „The Limits of Control“ haben es nicht bis in den Trailer geschafft. Der hat die üblichen Sekundenschnitte. Danke aber für den Tipp, bin immer froh für Kinotipps. Am liebsten mag ich Filme, in denen „nichts“ passiert (bin denkfaul), z.B. „Out of Rosenheim“ oder „Bikur Ha-Tizmoret“ (Die Band von nebenan).
Ich muss jedoch hinzufügen, dass in „The Limits of Control“ bis auf wenige Abschnitte wirklich außerordentlich wenig passiert (und vieles von dem, was geschieht, läuft wohl eher unter „Rätsel“ als „Handlung“). Die Bilder habe ich als fantastisch empfunden, und so war der Film für mich ein sehr schönes Erlebnis. – Weitere Filme, die mit vergleichsweise wenig Handlung auskommen, aber ganz hervorragende Eindrücke für Auge und Ohr bieten, sind die Werke von Jacques Tati, besonders „Playtime“ und „Mon Oncle“ – ich weiß gar nicht, wie oft ich mir diese schon angeschaut habe … Bei diesen Filmen denke ich übrigens immer an ein Schild, das ich mal in einer Austellung alter Druckpressen und Satzmaschinen gesehen habe: „Sei auch im Kleinen und im Kleinsten sorgfältig.“ Das gefällt mir!
Monsieur Hulot ging leider bislang an mir vorbei . Vielleicht liegt es daran, dass uns unser Französisch-Lehrer die Tati-Filme bei jeder Gelegenheit empfohlen hat. Pädagogisch gefärbte Tipps immunisieren.
Das Motto „Sei auch im Kleinen und Kleinsten sorgfältig“ passt gut zu deinem Weblog. Slow Food. Das Wie ist gleich wichtig wie das Was. Lädt ein zum müssigen Verweilen.
Die gut nachvollziehbare Immunisierung ist natürlich sehr schade, aber vielleicht lassen diese Abwehrkräfte ja irgendwann nach. Warum hat er Jacques Tatis Filme eigentlich empfohlen? An der französischen Sprache kann es kaum liegen, dient diese doch in den Filmen oft nur als Geräusch und transportiert kaum wesentlichen, für das Verständnis des Films notwendigen Inhalt.
Danke für Deine netten Worte! Ja, ein wenig halte ich mich schon an diese im doppelten Sinne museale Aufforderung und empfinde großes Vergnügen am Umgang mit Kleinigkeiten; zudem ist es etwas ganz besonderes, wenn sich plötzlich hinter einem unscheinbaren Detail eine ganze Welt auftut. Bei dieser Gelegenheit fällt mir das Buch „Scrolling Forward: Making Sense of Documents in the Digital Age“ von David M. Levy ein. Im ersten Kapitel „Meditation on a Receipt“ schaut er ganz genau auf einen einfachen Kassenbon und kommt dabei auf viele kulturgeschichtliche Aspekte – einfach faszinierend! Wer das gelesen hat, schaut sicher ganz anders selbst auf den langweiligsten Beleg.
Die Kleinigkeiten an alltäglichen Produkten sind es auch, die in meinen Augen oft über die Qualität entscheiden. Sicher, ein Bleistift mit unsauberem Aufdruck mag ebenso gut schreiben wie ein korrekt bedruckter, aber spielt dieser Aspekt wirklich keine Rolle? Und auch als Nicht-Erbenszähler können einem kleine, unnötige Pressgrate und nicht ganz passgenau sitzende Komponenten unangenehm auffallen, selbst dann, wenn sie die Funktion des Geräts nicht beeinträchtigen. Die Sorgfalt einiger japanischer Hersteller von Schreib- und Zeichengeräten bewundere ich da sehr, denn diese gehen bisweilen selbst bei günstigen Produkten mit qualitätsbildenden Details beinahe verschwenderisch um; dies empfinde ich auch als Wertschätzung des Kunden.